Sie waren in China und in der Schweiz in der Schule, wo sehen Sie die gravierendsten Unterschiede?
Ich hatte das Glück, nicht nur in der Schweiz, sondern bereits in China eine sehr gute Schule besuchen zu können. Es ist natürlich schwierig, vor allem in einem grossen Land wie China, über allgemeine Unterschiede zu sprechen, auch in der Schweiz gibt es Unterschiede von Gymnasium zu Gymnasium. Ein wesentlicher Unterschied besteht sicherlich aus den zwei ganz unterschiedlichen Maturitätssystemen. Da in der Schweiz kein Notenschnitt für den Eintritt in eine Universität verlangt wird, hat man mehr Flexibilität und Freiheit. Dies nicht nur in der Schule, sondern auch in der Freizeit, um sich eigene Ziele zu setzen. Im Gegensatz dazu kann man sich in China vor allem in den naturwissenschaftlichen Fächern eine viel bessere Grundlage aufbauen. Viele sprechen auch von der Selbstständigkeit in der Schule, die in der Schweiz mehr gefördert wird als in China. Für eine gute akademische Leistung sind, meiner Meinung nach, in beiden Ländern ähnliche Fähigkeiten gefordert.
Wie hat Ihnen die Zeit in Disentis gefallen?
Die Zeit hat mir sehr gefallen. Ich habe vier Jahre, insgesamt rund 1200 Tage in Disentis und in der Region verbracht. Disentis ist in fast jeder Hinsicht ganz anders als meine Heimatstadt Beijing. Dennoch war es nicht wirklich schwierig für mich, mich an das Leben in Disentis zu gewöhnen. Vielleicht weil ich aus einem eher ruhigen Quartier in Beijing komme, in dem die Nachbarn noch einander kennen. Das Zentrum meines Lebens hier in Disentis war schlussendlich immer die Schule. Die Menschen auf dem Kloster-/Schulgelände und im Dorf waren meistens sehr freundlich zu mir und ich fühlte mich sehr wohl in der Region. Disentis war für mich wie eine zweite Heimat, ich kann sehr Vieles aus diesen vier Jahren mitnehmen.
Was waren die Höhepunkte schulisch/persönlich?
Der erste schulische Höhepunkt für mich war natürlich das Bestehen der Deutsch-B1-Prüfung. Es gab von Anfang an die ganz klare Frist für meine chinesischen Schulkollegen und mich, dass wir unbedingt die B1-Prüfung so rasch wie möglich bestehen müssen. Da möchte ich mich ganz herzlich bei unseren Sprachlehrerinnen sowie dem ganzen Internatsteam bedanken.
Der zweite schulische Höhepunkt war gleichzeitig ein persönlicher Höhepunkt. Es war die Wirtschaftswoche nach den Osterferien in der 4. Klasse. Wir waren gemeinsam in Olivone, wo wir für eine Woche als Teams in einer virtuellen Industrie gegeneinander gekämpft haben. Bei dem Sieg unserer Gruppe hatte auch ich meinen Anteil, allerdings war das nicht der entscheidende Faktor. Für mich war das Wesentliche zu zeigen, was ich alles machen konnte, was ich für einen Charakter habe und inwieweit ich besser erkennen konnte, wie die anderen Charaktere in der Klasse sind. Es war ein Katalysator für viele Freundschaften, die ich in der nachfolgenden Zeit aufgebaut habe.
Ein weiterer Höhepunkt war die Teilnahme an der Schweizerischen Mathematik-Olympiade. Es war für mich eine Gelegenheit, neue Leute kennenzulernen und einen horizontalen Vergleich unter meinen Altersgenossen anzustellen. Das Resultat hingegen war für mich nur ein Bonus.
Wie war der Zusammenhalt mit Ihren Mitschülern?
Es war sehr unterschiedlich. Ich habe sehr gute Kollegen und Kolleginnen gefunden, mit denen ich mich sehr gut verstehe. Es gab auch schwierigere Beziehungen, wie es diese in jeder Atmosphäre oder Umgebung gibt. Das wichtige für mich war, dass ich mit den guten Freunden und Freundinnen eine tolle Freundschaft aufbauen konnte, und dass ich auch lernen konnte, wie ich mit den eher schwierigeren Kollegen/Kolleginnen umgehen soll.
Was können Sie aus Ihrer Zeit in Disentis mitnehmen?
Es gibt unendlich viele Schätze, die ich aus meiner Zeit in Disentis mitnehmen darf. Ich habe neue Sprachen gelernt, meine Kenntnisse erweitert und meine Lernfähigkeiten verbessert. Viel bedeutsamer sind die Lebenserfahrungen, die Freundschaften und die Erinnerungen aus dieser Zeit. Im Vergleich zu ein paar Notizen aus einer Lektion bleiben die persönlichen Erfahrungen viel länger bei mir und werden mir auch für die Zukunft hilfreich sein.
Wie hat die Zeit in Disentis Sie verändert?
Es fällt mir ziemlich schwer, mich genau einzuschätzen. Ich bin viel selbstständiger geworden, wahrscheinlich auch etwas hartnäckiger. Ohne meine Eltern in der Nähe war ich fast gänzlich für mich selbst zuständig und ich musste in vielen Situationen anders reagieren, als ich es sonst getan hätte. Und ich habe hoffentlich weniger Höhenangst, auch wenn viele aus der Klasse diese Veränderung nicht merken würden. 😉
Was haben Sie nach der Matura nun vor?
Ich gehe im Herbst an die ETH Zürich. Was danach kommt, steht natürlich noch in den Sternen. Aber ich bin offen für Vieles.