Predigt von Pater Bruno

Die Predigt von Pater Bruno anlässlich des Schuleröffnungsgottesdienst:

Liebe Schülerinnen, liebe Schüler!


Ihr alle wisst: Lernen macht nicht immer Spass, es kostet oft auch Anstrengung. Zum Beispiel das Lernen von Wörtern und Grammatikregeln einer Fremdsprache. Da denkt sich mancher: „Wozu sich das noch einprägen? Das kann man doch heute alles rasch im Internet nachschlagen und Google bietet auch einen Übersetzungsdienst an.“ Doch ich gehe mit euch eine Wette ein: Auch die ausgereiftesten Übersetzungsprogramme werden niemals das leisten, wozu ein Mensch beim Übersetzen fähig ist.


Diese Behauptung möchte ich begründen anhand des Mottos für unser neues Schuljahr. Es ist erneut der Regel des heiligen Benedikt entnommen, nämlich dem 53. Kapitel über die „Aufnahme der Gäste“. Die Benediktsregel ist auf Lateinisch verfasst. Herr Rathofer und mindestens die fortgeschrittenen Lateinschüler werden also unser Motto in der lateinischen Originalfassung nachschlagen. Und dabei werden sie stutzen. Denn in der Kapitelüberschrift und im ersten Vers treffen sie auf das gleiche lateinische Wort, das in der Grundform hospes heisst. Jedoch wird dieses Wort jeweils verschieden übersetzt, einmal mit „Gast“, dann mit „Fremder“. Welche Übersetzung ist nun richtig? Diese Frage führte bereits zu einem Missverständnis zwischen Rektor Roman Walker und mir. Er entnahm die Formulierung des Mottos der offiziellen Regelübersetzung: „Alle Fremden, die kommen, sollen aufgenommen werden wie Christus.“ Ich dagegen teilte Br. Magnus und Marc Schmed, den Redaktoren des Vademecum, die Fassung mit: „Alle Gäste, die kommen, sollen aufgenommen werden wie Christus.“ Wer hat nun recht? Das ist keine Frage des Rechthabens, sondern das ist eine Aufgabe für unser Nachdenken – und eben das kann uns kein Computer abnehmen.


Denken wir also gemeinsam nach. Welche der beiden Übersetzungen ist treffender? „Gast“ klingt einladender als „Fremder“. Bei Fremden hält man Distanz, lässt sie spüren, dass sie nicht wirklich dazugehören, ist vielleicht sogar froh, wenn sie bald wieder gehen. Wäre das ein sinnvolles Motto für unseren Umgang am Gymnasium Kloster Disentis mit neuen Schülern und Schülerinnen, besonders mit solchen, die aus fremden Ländern kommen? Also ist klar: Wir sprechen von „Gästen, die kommen“.
Doch ist die Sache wirklich so klar? Warum entschieden sich die Übersetzer der Regel für die „Fremden“? Die Antwort findet sich im lateinischen Wort, das dem deutschen „die kommen“ zugrunde liegt. Es ist das Partizip supervenientes. Wörtlich bedeutet das: „diejenigen, die unvermutet kommen“. Benedikt meint also nicht die Freunde, Bekannten und Verwandten, sondern wildfremde Leute, die überraschend an die Klosterpforte klopfen. Die sollen wie Christus aufgenommen werden. Leute aus dem eigenen Rudel freundlich aufzunehmen, das macht uns noch nicht zu Christen, kaum zu Menschen, das tun auch Tiere. Auch der Mensch spürt den Naturinstinkt, dass das Fremde in ihm Angst hervorruft, er davor fliehen möchte oder in Abwehrstellung geht.


Aber der Mensch, besonders der Christ, kann einen Schritt weitergehen. Er kann zunächst neugierig sein, möchte den Fremden gerade deshalb kennen lernen, weil dieser anders ist. Das ist übrigens eine der schönsten Erfahrungen beim Lesen von Romanen oder Erzählungen. Dies als Motivation für unser neues Lesestudium! Die heutige Lesung motiviert ähnlich für die Gastfreundschaft: „Denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.“ (Hebr 13,2) Gemeint sind damit in erster Linie der Erzvater Abraham und seine Frau Sarah. Abraham machte Siesta am Eingang seines Zeltes. „Er blickte auf und sah vor sich drei Männer stehen.“ (Gen 18,2) Mit keinem Wort wird gesagt, diese drei Männer hätten etwas Besonderes an sich gehabt. Gleichwohl läuft ihnen Abraham sogleich entgegen, wirft sich vor ihnen nieder und bietet ihnen seine Gastfreundschaft an. Hätte er das nicht getan, wäre sein Lebenstraum nicht in Erfüllung gegangen: dass er endlich durch Sarah einen Nachkommen bekommt. Fremde können Engel sein, Boten Gottes. Sie können uns Botschaften übermitteln, die uns wunderbare neue Perspektiven eröffnen.


Noch einen weiteren Schritt kann der Mensch, der Christ im Umgang mit Fremden tun. Er kann den Anderen gerade als Anderen achten und wertschätzen. Der Fremde hat das gleiche Recht, er selber zu sein wie ich. Der Fremde blickt mich an – und mein Impuls ist nicht: Weg damit! Auch nicht: Werde mein Spiegelbild! Sondern: Gut, dass es dich gibt! Leichter fällt es, den Anderen zu respektieren, wenn ich mit christlichen Augen auf ihn blicke und so in ihm das Abbild Gottes, Christus, erblicke. Herabsetzende Bemerkungen über oder zu anderen Menschen haben deshalb am GKD keinen Platz; sie widersprechen zutiefst dem benediktinisch-humanistischen Menschenbild, das unsere Schule prägen soll.


Was heisst es nun konkret, einen Fremden bzw. einen Gast wie Christus aufnehmen? Im Evangelium hörten wir, wie die beiden Schwestern Marta und Maria Jesus als Gast aufnahmen. Marta organisiert alles, was es für einen angenehmen Aufenthalt braucht. Also den neuen Mitschülern behilflich sein, sich zurechtzufinden, die Sitten und Bräuche am GKD oder in der Schweiz erklären. Doch das Bessere tut Maria: sie nimmt sich einfach Zeit für den Gast und hört ihm mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu. Wirkliche Gastgeber lassen die Gäste nicht bloss ins Haus hinein, sondern sie öffnen auch ihr Herz. Die mittelalterlichen Mönche formulierten deshalb das schöne Motto: „Porta patet - magis cor“, auf Deutsch: „Die Türe ist offen - noch mehr unsere Herzen.“


Wohin hat uns unser Nachdenken über das anfängliche Übersetzungsproblem geführt? Auf jeden Fall weg von einer schlichten Alternative, hin zu einer differenzierten Sicht: Der Fremde soll zum Gast werden. Aber auch: Der Gast darf sein Fremdsein wahren. Entscheidend ist die Begegnung. Und schliesslich offenbart ein Blick ins Lateinwörterbuch noch eine Überraschung: Hospes kann auch den Gastfreund, den Gastwirt bezeichnen. Die Rollen sind also nicht so eindeutig verteilt: Jeder von uns ist zugleich Gast und Gastwirt. Arbeiten wir im kommenden Schuljahr gemeinsam daran, dass sich am GKD alle aufgenommen fühlen. Dass wir durch unser Verhalten einander die Botschaft Gottes vermitteln: „Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.“ (Hebr 13,5) – Amen.

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